Wir könnten uns mehr oder weniger abstrakt über das Sein und über den rechten Weg unterhalten, aber das ist nicht das, was wir an der ISSÖ notwendigerweise tun müssen. Wir sind keine Philosophen; wir müssen Wege finden, die uns verlässlich hineinführen in die Betrachtung – und bedachte Anwendung – jener Aspekte des Seins, die uns als Körperarbeiter angehen, wenn wir behaupten, einen Menschen ganzheitlich behandeln zu wollen.
Ob „ganzheitlich“ nun bedeutet, Körper, Geist und Seele als wechselseitig aufeinander wirkende und voneinander abhängige Komponenten eines Zusammenhangs und somit als Einheit zu sehen. Ob es bedeutet, anzuerkennen, dass nicht nur die Umstände des persönlichen Seins selbst, sondern auch die Ideen vom Sein (und von der Person) Einfluss auf das Dasein als Mensch haben. Oder ob man mit dem Begriff besonders darauf hinweisen will, dass man nicht auf der Ebene der Symptome sondern auf jener der Ursachen ansetzt:
Vor dem Hintergrund all dieser Annahmen ist es völlig unmöglich, sich angemessen mit dem System der Wirkungsweisen und Ausdrucksformen des Körper-Geist-Seele-Daseins eines Lebewesens auseinanderzusetzen (zumal auf einer einflussnehmenden Ebene), ohne sich tiefere Einblicke in bestimmte Aspekte dessen, was wir so allgemein das Sein nennen, zuzumuten.
Wovon müssen wir also sprechen?
Immer eingedenk dessen, dass es ja das leibhaftige Wesen des Menschen selbst ist, das wir beeinflussen mit unserer Arbeit – und eben nicht der abstrakte Diskurs in einer Runde von philosophisch Interessierten – möchte ich hier einige Spuren auslegen, denen wir folgen können, wenn wir uns im Dickicht der sachdienlichen Gedankengänge orientieren wollen.
Sein, erste Person Singular: Ich bin. So behaupten wir uns bald nach unserem Eintritt in die materielle Welt. (Und was den Menschen dann wesentlich ausmachen wird, ist die Sorge vor dem eigenen Nicht-Sein...) Die Behauptung unseres Seins aber gelingt uns – lange bevor wir dafür sprachlichen Ausdruck finden – aufgrund unserer Wahrnehmungen. Dazu bedarf es (vor allen Dingen?) der Sinne (siehe buddh. Bewusstsein) – und weiter: der Sinnzusammenhänge.
Man könnte sagen: Unser Dasein erfahren wir durch die Interaktion unserer Körper-Geist-Manifestation mit den Erscheinungen – und dazu zählt bereits das Wahrnehmen (auf körperlicher und geistiger Ebene).
Besonders interessant für uns sind die Funktionsweisen dieser Interaktion. (Wir sprechen bildlich von den Schnittstellen zwischen Körper und Geist.) Einerseits manifestiert sich das Sein über die sinnliche Wahrnehmung – das Werkzeug, das wir dafür haben, ist unser Sinnesorgan Körper – mit all seinen Brillen und Filtern. Andererseits sind wir mit unserem Geist zugleich auch ein interpretierendes Instrument der Betrachtung, das dem sinnlich Wahrgenommenen quasi im selben Atemzug Bedeutung verleiht. Verdeutlichen lassen sich diese Vorgänge unter anderem am Beispiel der Furcht: Wir fürchten uns vor etwas, weil wir wissen, also gelernt haben, dass dieses Etwas uns bedrohlich werden könnte. Die Vorstellung von dem, was in uns Furcht erregt, basiert ursprünglich also auf einem geistigen Konzept, ist allein dem Intellekt geschuldet. Und doch erleben wir diese Furcht körperlich: Herzrasen, „Angstschweiß“, Schwindel, weiche Knie etc., Symptome, die wir wiederum deuten, indem wir sagen: Ich fürchte mich.
So bestimmt nicht nur das Sein das Bewusstsein, sondern auch das Bewusstsein das Sein.
Es sind diese Wege, auf denen unsere Arbeit das Potential hat, dieses durch und durch variable Gut, die Form und Art des Seins, zu beeinflussen. Umstand formt äußere Haltung formt innere Haltung... Ob wir uns dessen bewusst sind oder nicht, ist unser Sein beeinflusst von der Justierung der Körper- und Geisteshaltung, die wir mit uns herumtragen. Und das Urteil fällen wir jeden Morgen neu, wenn wir erwachen.
Gibt es ein Sein ohne Bewusstsein? Wo sind wir nach unserem Tod, vor unserer Geburt? Naturgemäß können wir dazu nichts sagen. Das einzige, was wir wissen können ist: Wenn wir erwachen, können wir nicht beschließen, nicht zu sein. Und das Sein, über das wir sprechen können, ist immer und ausschließlich das hiesige und jetzige.
Wenn wir also morgens die Augen öffnen, hebt sich der Vorhang. Und unser Wahrnehmungsorgan Körper plündert unseren Erinnerungsspeicher (voll der Gewebe aus gewesenem Sein) und führt ein Theaterstück auf über alles, was unser Sein aus Erinnerungen generiert. Wir sind darin Schauspieler, Regisseure, Requisiteure und das Publikum zugleich.
Das sind die Dinge abseits des Materiellen, auf die wir unsere Aufmerksamkeit richten müssen: Wie führen wir uns auf?
Für unsere Tätigkeit als Körperarbeiter haben solche Überlegungen unmittelbaren Nutzen.
Halten wir fest: Veränderung im Körperlichen setzt eine Veränderung des Bewusstseins voraus und umgekehrt.
Man kann dauerhafte körperliche Veränderung herbeiführen, indem man bewusstseinsverändernde Maßnahmen einleitet – einerseits über körperliche Impulse, andererseits über das Einnehmen einer Haltung in diesem Vorgang, die es dem Klienten unmöglich macht, nicht in die Veränderung zu gehen.
Worin solch eine Haltung besteht, lässt sich, bei aller fallweisen Variabilität, ganz klar allgemein beschreiben. Wir müssen uns der Umstände gewahr sein, die ein aufrichtiges, erwachsenes Mensch-Sein ermöglichen – und in der Lage sein, diese zu vermitteln. Dazu zählt erstens: die ausgeprägte Fähigkeit, die eigene Person und Position sowie die Umstände der zu behandelnden Person zu betrachten, zweitens: der Perspektivenwechsel – mit einem feinen Ohr für die Vielstimmigkeit der jeweiligen Position, und drittens: die unverstellte Rede.
Viel Schein-Tiefsinn findet sich in den bunten Sprechblasen der Esoterik, und das Bedürfnis nach Einheit und ganzheitlichem Verständnis, das in unserer Gesellschaft immer deutlicher hervortritt, wird nicht selten mit lieblichen Wortlauten zu beschwichtigen versucht, in denen Vorstellungen einer allem zugrundeliegenden höheren Absicht anklingen, die, egal was wir tun, das Gute generiert.
Die Haltung, von der ich spreche, stellt sich gegen diese Art der Beschwichtigung. Ohne reflektiert teilnehmende Aufmerksamkeit wird sich nichts zum Besseren entwickeln. Und oft besteht das Heilsame gerade darin, dass wir aufrütteln und das Bewusstsein darauf richten, dass die Dinge endlich sind – dass wir endlich sind.
Wir sehen uns als Institut, das genau diesen Umstand anerkennt. Wir erforschen Wege, die es uns ermöglichen, damit umzugehen, und wir möchten Menschen, die sich dazu berufen fühlen, mit den Möglichkeiten dieser Wege vertraut machen.